Magst du zunächst ein bisschen von dir erzählen?
Ich heiße Kerstin Lück. Ich bin 39 Jahre alt. Ich habe einen 10jährigen Sohn. Ich lebe in einer Partnerschaft und gemeinsam wohnen wir in Stralsund.
Mein ganzes Leben kenne ich das Gefühl der Angst. Die Angststörung ist also schon immer da gewesen. Ich habe das als junger Mensch versucht in den Griff zu bekommen. Als junge Erwachsene bin ich dann in Therapie gegangen. Und habe aber nie so eine richtige Lösung für mich gefunden, dass die Angst irgendwann mal aufhört. Ich habe später noch eine schwere Depression entwickelt. Habe mich da wieder rausgekämpft und wie es das Leben dann so wollte, habe ich irgendwann meinen Sohn bekommen.
Ich habe viele schlimme Dinge erlebt wie psychische und physische Gewalt, Mobbing, Ausgrenzung. Ich habe dann irgendwann angefangen aus Kummer zu trinken, um das irgendwie verarbeiten zu können, damit fertig zu werden. War sehr lange alleinerziehend. Das war sehr anstrengend, gerade durch die Angsterkrankung.
Ich habe Erziehungswissenschaften und Germanistik auf Bachelor studiert und habe dann noch den Master in Sprache und Kommunikation gemacht. Damals habe ich zeitgleich begonnen Psychologie auf Diplom zu studieren. Habe das 2 Jahre gemacht und dann aber aufgrund von zu vielen Aktivitäten gleichzeitig, Mobbingerfahrungen und einem Burnout das Studium der Psychologie zurückstellen müssen. Ich habe eine Zusatzqualifikation als Entspannungspädagogin.
Wie bist du zu EX-IN gekommen?
Über einen depressiven Schub bin ich zu EX-IN gekommen. Ich habe schon immer viele Selbsthilfebücher gelesen. Unter anderem ein Buch „Meine Depression und ich“ und am Ende des Buches tauchten so mehrere Internetseiten auf. Und über diese Internetseiten bin ich durch Zufall auf EX-IN gestoßen. Ich gehe die Sachen immer sehr wissenschaftlich an und dann habe ich ein sehr umfangreiches Buch zum Thema EX-IN `gewälzt`. Das Buch habe ich richtig verschlungen. Daraufhin bin ich dann irgendwann auf EX-IN Mecklenburg-Vorpommern gestoßen.
Ich habe in meiner damaligen Arbeit den direkten Kontakt zu Klient*innen vermisst und wusste, dass ich den Austausch möchte und dass es mir guttut. Die Schreibtischarbeit hat mich in ein Bore-Out getrieben und das wollte ich ändern. Ich habe das schon immer so gemacht, zu schauen, wie machen das andere. Ich brauche andere Betroffene, ich brauche Lebensgeschichten.
Ich war wie beschrieben im depressiven Schub und suchte nach Hilfe. Tagesklinik und Klinik hatten lange Wartezeiten und ich wusste aber, ich brauche jetzt Hilfe. Aus dieser Situation heraus entstand bei mir die Idee, dass es etwas geben muss, dass den Menschen hilft, diese Wartezeit zu überbrücken, dass es jemanden gibt, der Ihnen ihnen Mut und Hoffnung macht…der mit ihnen wartet. Das war alles so zeitgleich – mit diesem Selbsthilfebuch, mit EX-IN und diese Warteschleife, der ich ausgesetzt war. Und im März 2019 hatte ich dann mit Fr. Streiber ein Gespräch zum EX-IN Kurs. Ich hatte durch EX-IN die Hoffnung, wie schon früher durch berufliche neue Perspektiven, rauszukommen aus der Depression und einen neuen Weg zu finden, was ich machen kann und was mir auch guttut. In der Auseinandersetzung mit mir habe ich gewusst, dass mir wichtig ist, im Austausch zu sein, meinen Lebensweg und meine Erfahrungen zu teilen.
Durch den EX-IN Kurs im Austausch mit anderen Teilnehmern habe ich für mich erkannt, dass ich auch eine Suchtproblematik hatte. Seit 2018 hatte ich aufgehört aber rückblickend ist mir erst im Kurs bewusst geworden, dass ich ein Suchtverhalten hatte und habe dann dadurch dieses Thema auch in meinem Genesungsweg bearbeitet und integriert.
Wo genau arbeitest du und seit wann?
Ich arbeite seit 2 Jahren im Therapiezentrum des Gartenhaus e.V. „Psychose und Sucht“.
Was machst du dort ganz genau und mit welchem Umfang?
Ich bin dort direkt als Betreuerin angestellt mit einem Umfang von 30h wöchentlich. Ich bin sozusagen als Fachkraft beschäftigt, aber alle meine Qualifikationen spielen eine Rolle und machen mich als Mitarbeiterin in der Einrichtung aus. Das Thema Genesungsbegleitung ist definitiv Teil des Konzeptes des Hauses und auch mit den Kostenträgern kommuniziert.
Neben den normalen Abläufen in den Schichten biete ich Entspannungskurse und eine Resilienzgruppe an. Ich habe auch zwei Klient*innen in der Bezugsbetreuung. Dokumentation gehört auch zu meinem Aufgabenbereich. Zusätzlich bin ich zuständig für das Thema Skills. Meine Kolleg*innen verweisen unsere Klient*innen oft an mich, wenn sie Bedarf an Skillstraining haben. Ich nutze für mich selbst sehr intensiv verschiedene Skills. Ich habe auch eine Skillskiste für das Therapiezentrum angelegt. Die erweitere ich gelegentlich. Ich bin sozusagen die Expertin dafür und meine Kolleg*innen nutzen dies auch.
Wie kam es zu dem Arbeitsverhältnis?
Noch zur Zeit des EX-IN Kurses im Jahr 2019 habe ich nach längerer Zeit die Leiterin des Therapiezentrums wiedergetroffen. Wir kamen ins Gespräch und ich habe im Rahmen des Kurses mein Praktikum dort absolviert. Im Praktikum habe ich dann bereits die Enstpannungs- und den Resilienzkurs angeboten, damals nannte ich diesen noch Genesungsgruppe.
Das Praktikum war dann die Grundlage für meine Einstellung.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit deinen Kolleg*innen und deiner Chefin?
Ich arbeite in einem tollen Team und bin froh, über die Zusammenarbeit und den Austausch, der für mich so wichtig ist. Meine Chefin kennt mich gut und geht auf meine Bedürfnisse so gut es geht ein. Aufgrund meiner familiären Situation teilt sie mich beispielsweise oft für Frühdienste ein. Diese Tagesstruktur ist auch wichtig für mich und tut mir gut.
Der Fokus meiner Tätigkeit im Therapiezentrum liegt auf der Rolle der Betreuerin. Das ist meine Hauptaufgabe und ich lasse meine Erfahrungen miteinfließen. Hauptsächlich tue ich das im Rahmen von Dienstberatungen, Übergaben oder im Austausch mit den anderen Kolleg*innen. Durch meine Erfahrungsperspektive versuche ich als Fürsprecher*in für die Klient*innen in den Beratungskontexten aufzutreten. Ich versuche die Kolleg*innen zu sensibilisieren für die Bedürfnisse und Sichtweisen der Klient*innen. Außerdem reflektieren wir gewisse Situationen gemeinsam oder ich rege dies an. Ich sehe in der Arbeit der Fachkräfte aber auch im Umgang der Klient*innen untereinander oft Stigmatisierungen. Diese versuche ich aufzudecken, dafür zu sensibilisieren und mich dafür einzusetzen, dass Stigmatisierungen reduziert werden können.
Im Team ist Augenhöhe für mich sehr wichtig und nach zweijähriger Tätigkeit in dem Therapiezentrum habe ich auch einen Entwicklungsprozess hinter mir. Zu Beginn bin ich sehr offen mit meiner Geschichte umgegangen. Das habe ich relativiert im Laufe der Zeit. Nach einigen Schwierigkeiten im Team haben wir erarbeitet, dass ich beispielsweise immer deutlich mache aus welcher Perspektive ich gerade etwas sage. Also sag ich etwas, das auf meinem Fachwissen basiert oder ich berichte von meinen persönlichen Erfahrungen. Das hilft. Manchmal empfinde ich es als Herausforderung, dass Lebenserfahrung und Fachwissen nebeneinanderstehen können. Da entsteht oft Konkurrenz und das macht einen Austausch auf Augenhöhe unmöglich. Ich wünsche mir, dass jede Perspektive anerkannt wird und stehenbleiben kann und nicht dagegengeredet wird.
Wie ist die Zusammenarbeit mit den Klient*innen?
Wie eben in der Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen beschrieben habe ich auch in der Zusammenarbeit mit den Klient*innen einen Entwicklungsprozess hinter mir. Anfangs war ich wie gesagt sehr offen mit meiner Geschichte. Nach einigen Erfahrungen, dass Dinge, die ich preisgegeben habe, gegen mich verwendet wurden, habe ich mich nach und nach zurückgezogen. Die Klient*innen wissen, dass ich eigene Erfahrungen habe mit psychischen Krisen aber im Rahmen der Resilienzgruppe beispielsweise nutze ich eine andere Lebensgeschichte, um einen Genesungsweg anzubieten oder zu skizzieren. Einen Genesungsweg anzubieten finde ich wichtig, um die Klient*innen an ihre eigene Geschichte heranzuführen.
Grundsätzlich versuche ich die Klient*innen zu ermutigen, einen ersten Schritt zu machen, etwas für sich zu tun. In der Zusammenarbeit mit den Klient*innen gibt es einige Herausforderungen, die mich zu Beginn meiner Tätigkeit schockiert haben. Zum einen der Umgang miteinander war schwer auszuhalten. Die Klient*innen haben oft wenig Therapiemotivation. Also der Anspruch oder das Interesse sich mit sich selbst auseinanderzusetzen ist eher gering. Das war für mich auch in meiner Rolle als Genesungsbegleiterin schwer zu ertragen, wenn kaum Austausch gewünscht ist. Nach und nach habe ich aber meine Erwartungen runtergeschraubt und konzentriere mich auf die Klient*innen, die etwas für sich erreichen wollen und das Gespräch suchen.
Was macht dir am meisten Spaß? Wo empfindest du deine Arbeit am wirkungsvollsten?
Ich bin sehr dankbar für mein Team und meine Arbeit. Wir haben ein sehr gutes Arbeitsklima und das ist nach vielen negativen Erfahrungen sehr wichtig für mich. Der Austausch im Team ist wichtig für mich.
Ich mag es, wenn wir außerhalb der festen Struktur die Möglichkeit haben mit den Klient*innen rauszugehen. Wenn wir gemeinsam aktiv Dinge machen, ein Eis essen gehen oder außerhalb des Therapieplanes gemeinsam etwas Schönes unternehmen. Dann entstehen Situationen, in denen sich die Klient*innen anders zeigen und auch öffnen. Ich erfahre dann Dinge, die ich in der Therapiestruktur so nicht erfahren hätte.
Was ist dein persönlicher Wunsch für die Zukunft und was wünscht du dir für die EX-IN Bewegung?
Ich wünsche mir, dass ich in beiden Rollen, sowohl als Fachkraft als auch als Genesungsbegleiterin meine Expertise weiter ausbauen kann. Ich möchte durch die Weiterentwicklung meiner Doppelrolle noch wirksamer werden und damit dazu beitragen, dass Hilfen flexibler werden und individueller auf die Menschen eingehen können. Ich wünsche mir auch, dass Fachkräfte ihre Expert*innenrollen aufweichen und bereit sind, sich selbst kritischer zu hinterfragen. Aus meiner Sicht ist oft nicht der/die Patient*in Schuld, das nichts funktioniert, sondern nicht passende Angebote.