You are currently viewing Landesweite Gedenkveranstaltung ERINNERN, BETRAUERN, WACHRÜTTELN am 27. Januar 2024 in Alt Rehse & Neubrandenburg

Den „Rückblick Landesweite Gedenkveranstaltung “ERINNERN, BETRAUERN, WACHRÜTTELN” 2024 in Alt Rehse & Neubrandenburg“ können Sie auf der Website: Artikel des Landesverbandes Sozialpsychiatrie nachlesen.

Der Genesungsbegleiter Christian Kaiser war mit einem Redebeitrag beteiligt, den wir Ihnen hier zur Verfügung stellen wollen:

Ich freue mich heute hier zu Ihnen sprechen zu dürfen. Ich heiße Christian Kaiser und bin seit 2019 Projektmitarbeiter beim EX-IN- Mecklenburg-Vorpommern e. V.  und schon seit 2005 in der Selbsthilfe im Landesverband seelische Gesundheit Mecklenburg-Vorpommern e. V.  tätig. 

Psychische Erkrankungen sind in der Bevölkerung noch immer mit Scham behaftet – auch wenn das Thema gerade in Pandemie-Zeiten stark an Bedeutung gewann. Es wird noch immer nicht gern darüber gesprochen und oftmals werden Menschen mit psychischen Problemen ausgegrenzt. Man macht sich über sie lustig oder gibt „kluge Ratschläge“. Aber es ist auch schon eine Besserung zu spüren.  

Deshalb ist es wichtig in die Vergangenheit zu blicken und auch das Negative, aber auch das Positive in der Gegenwart anzusprechen und in eine hoffentlich positivere Zukunft zu schauen. Kein medizinisches Fachgebiet ist so vielen Irrtümern erlegen wie die Psychiatrie. Die “Aktion T4” aus der Nazizeit zählt für mich zu den größten und schrecklichsten Fehlern, ja Verbrechen! 

Aber die sogenannte Eugenik (Lehre der vermeintlich guten Erbanlagen) existierte schon viel länger und wurde bereits seit 1883 angewandt. In der Nazizeit ab 1933 wurden Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen, oder Menschen, die eine geistige und körperliche Beeinträchtigung hatten, dann sterilisiert, verhungern gelassen und vergast oder anders hingerichtet. Die nationalsozialistische Rassenhygiene diente zur Rechtfertigung von Massenmorden an als „lebensunwert“ definierten Menschen und von grausamen Menschenversuchen in verschiedenen Konzentrationslagern. 

Heute ist all das glücklicherweise Vergangenheit. Aber an vielen Vorurteilen gegenüber Menschen mit psychischen Problemen hat sich nicht viel geändert und das liegt zum Teil daran, dass sie früher einfach weggesperrt wurden und bis heute oft kein sichtbarer Bestandteil der Gesellschaft sind. Die Verweildauer in “Irrenanstalten” war oft mehrere Jahre bis lebenslang. Heute ist die Durchschnittsverweildauer in psychiatrischen Kliniken ca. acht Wochen. 

Menschen mit psychischen Problemen leiden sehr unter den Vorurteilen von Nichtbetroffenen. Man nennt das auch Stigma oder zweite Krankheit. Eigentlich ist dies zum größten Teil das Problem der Menschen, die sich für normal halten, denn das Stigma beruht auf der Angst vor dem, der anders ist. Nicht nur die Angst spielt eine große Rolle, denn sie wird von Halbwissen und schlichtweg falschen Annahmen geschürt. Auch Sucht zählt zu den psychischen Erkrankungen, denn die Menge macht das Gift. Und Sucht geht fast immer mit seelischen Problemen und riesigem Leidensdruck einher. 

Doch viele von psychischen Leiden betroffenen Menschen wollen sich nicht damit abfinden, dass Ärzte und Nichtbetroffene sie als „unheilbar krank“ oder „austherapiert“ abstempeln. Aus eigener Erfahrung wissen sie: Genesung ist auch bei schweren psychischen Erkrankungen möglich. Es geht hierbei nicht um Heilung im klassischen Sinne, sondern um Stabilisierung, darum, trotz Erkrankung eine gute Lebensqualität zu haben. So entstand in den USA in den 1990ern die Recovery-Bewegung.  

Gemeinsam mit engagierten Fachleuten und Angehörigen wird sich für eine alternative Art der psychiatrischen Behandlung eingesetzt. Dabei sollte ein positiver, ganzheitlicher und gesundheitsfördernder Blick auf psychische Erkrankungen im Mittelpunkt stehen. Die Recovery-Bewegung ist eng mit der Selbsthilfe-Bewegung verwoben. Menschen mit psychischen Problemen wünschten sich eine Einbeziehung. 

So wurden die Stimmen immer lauter, dass Psychiatrie-Erfahrene selbst in der Versorgung arbeiten und als VermittlerInnen fungieren sollten. EX-IN wurde geboren. EX-IN steht für Experienced Involvement, also für die „Beteiligung von Psychiatrie-Erfahrenen“. Menschen, die versuchen nach einer Qualifikation als GenesungsbegleiterInnen anderen Psychiatrie-PatientInnen zu helfen. 

Der Verein EX-IN M-V e.V. möchte eine Brücke zwischen den Psychiatrie-Erfahrenen, den professionell Tätigen und den Angehörigen und Freunden seelisch gehandicapter Menschen bauen. Durch die Ausbildung zu GenesungsbegleiterInnen sollen die Betroffenen selbst eine Stimme bekommen, die durch diese DolmetscherInnen noch lauter und klarer wird. 

Die Horrorbilder einer Psychiatrie, die Sie vielleicht aus Film und Fernsehen kennen, stimmen so nicht mehr. Allerdings ist es in einer geschlossenen psychiatrischen Station manchmal immer noch äußerst schwierig als PatientInnen, aber auch als Personal. Es gibt hier in Deutschland zwar keine Zwangsjacken, stattdessen gibt es Fixierung an den Betten, das finde ich persönlich sogar noch schlimmer, weil man dann nicht umherlaufen und es zu traumatischen Erlebnissen führen kann. 

Auch für das Personal, das sich nicht anders zu helfen weiß, kann es eine schmerzliche Erfahrung sein. Doch es werden in einigen Kliniken auch Menschen angeschnallt, die für sich und andere keine Gefahr sind und diese Anzahl an Personen ist leider noch zu hoch. Ich habe schon erlebt, dass alte, gebrechliche oder mit Medikamenten vollgepumpte Menschen, angeschnallt wurden, da sie vom Bett fallen könnten. Aber viel hat sich dank der neuen Gesetze auch geändert. Und eine offene Station ist manchmal echt wie Urlaub! In einer offenen Station kann man sich frei bewegen und heutzutage sind die meisten Stationen offen. 

Doch nicht nur in den Kliniken, sondern auch später, wenn die Betroffenen entlassen sind, haben sie zu kämpfen, da meiner Meinung nach eine richtige Integration oder gar Inklusion noch nicht ausreichend geschafft wurde. Oft arbeiten von psychischen Problemen Betroffene in Werkstätten und verpacken Ballons zusammen mit geistig behinderten Menschen. Es fehlt der Kontakt zu gesunden Menschen, das stört mich. Es wäre besser, wenn in solchen Werkstätten auch Nichtbetroffene arbeiten würden, zum Beispiel als Sozialstundenleistende, auch wenn das komisch klingt. Und auch in den Wohngruppen sind die Betroffenen unter sich. Großartig wären inklusive Strukturen in sozialen Einrichtungen und in Unternehmen, in denen wir als Betroffene arbeiten können. Wir alle zusammen. 

Es gibt viele Menschen, für die das Konzept der psychiatrischen Hilfen nicht ausreicht. Das sind vor allem junge Menschen. Oder Menschen wie ich im Erwachsenenalter. Diese haben in vielen Fällen zwar einen Minijob, doch was ist, wenn man von der Erkrankung erfährt? Ich kannte das. Ich rannte von Maßnahme zu Maßnahme, machte Praktika und fand trotzdem keinen Job. Oder gerade deshalb, denn wenn die Firmen Praktikanten haben, brauchen sie ja nicht zahlen, andererseits geht man gerade dann, wenn man sich eingearbeitet hat. 

Ein weiteres sehr wichtiges Thema ist die Jugend. Für die Kinder psychisch kranker Eltern gibt es oft noch zu wenig Hilfen, obwohl sich in den letzten Jahren doch einiges getan hat. Doch manchmal kommt trotzdem die Hilfe erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist und selbst erkrankt. Und dann haben die PsychiaterInnen wieder was für ihre Statistiken, denn heute wie damals gilt die Annahme, dass viele psychische Krankheiten erblich sind, dabei entstehen viele psychische Erkrankungen erst im Leben. Ich glaube, dass ÄrztInnen viel mehr die Ursachen bekämpfen sollten, anstatt nur Medikamente zu verabreichen, also die Symptome zu bekämpfen. Oft ist eine Tablette schneller gegeben, als ein heilsames Wort geschenkt ist. 

Ich wünsche mir, dass Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen endlich gehört werden und die Stigmatisierung aufhört. Dafür ist noch viel Arbeit zu leisten und daran beteiligt sich der Verein EX-IN aktiv. Ich glaube fest, dass wir, wenn wir den anderen so akzeptieren wie er ist, also mit all seinen Macken, eine bessere und gerechtere Welt aufbauen können.  

Dafür müssen wir alle etwas gemeinsam tun – nämlich zusammenhalten, um gemeinsam alles zum Positiven zu verändern, und zwar für ALLE! 

DANKE! 

 

 

 

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Vorankündigung des Gedenktages:

Die „Aktion T4“ aus der Nazizeit zählt ohne Zweifel zu den größten und schrecklichsten Fehlern in der deutschen Geschichte, ja es geht um Verbrechen!

„Aktion T4 ist eine nach 1945 gebräuchlich gewordene Bezeichnung für den systematischen Massenmord an mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen in Deutschland von 1940 bis 1941 unter Leitung der Zentraldienststelle T4. Diese Ermordungen waren Teil der Krankenmorde in der Zeit des Nationalsozialismus, denen bis 1945 über 200.000 Menschen zum Opfer fielen.“ Quelle: Wikipedia

Aber die sogenannte „Eugenik“ (Lehre der vermeintlich guten Erbanlagen – Quelle: Planet Wissen) geht zurück bis auf die Evolutionslehre des britischen Naturforschers Charles Darwin in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Idee hinter der „Eugenik“ existierte schon sehr lange. In der Nazizeit ab 1933 wurden Menschen mit seelischen/psychischen Krankheiten sowie geistig und körperlich behinderte Menschen dann sterilisiert, dem Verhungern überlassen, mit einer Überdosis Medikamenten getötet, vergast oder anders hingerichtet. Die „Nationalsozialistische Rassenhygiene“ diente zur Rechtfertigung von Massenmorden, die als „lebensunwert“ definierten Menschen, um grausame Menschenversuche in verschiedenen Konzentrationslagern zu verüben.

In Mecklenburg-Vorpommern und in ganz Deutschland wird jährlich der Menschen mit psychischen Erkrankungen, geistigen und körperlichen Behinderungen gedacht, die im Nationalsozialismus zwangssterilisiert oder im Rahmen der „NS-Euthanasie“ ermordet oder in Vernichtungslager deportiert wurden.

Am 27. Januar gedenken wir in Deutschland den Opfern des NS-Regimes und somit auch den Menschen, die Opfer der NS-Euthanasie und Zwangssterilisationen wurden. Heute ist ein solches Grauen glücklicherweise Vergangenheit. Aber an vielen Vorurteilen gegenüber Menschen mit seelischen/psychischen Problemen hat sich leider noch nicht so viel geändert. Man nennt das auch „Stigmata/Stigma“ oder „zweite Krankheit“. Stigmata sind gesamtgesellschaftlich gewachsen und viele halten sich bis heute hartnäckig in den Köpfen vieler Menschen. Sie beruhen auf der Angst, vor dem, was anders ist. Neben der Angst vor dem Unbekannten spielt fehlendes Wissen oder Halbwissen oder falschen Annahmen eine große Rolle zur Entstehung von Ablehnung bis hin zu Behindertenfeindlichkeit (Ableismus).

Tatsächlich erkranken jährlich bis zu 20 Millionen Menschen der Bevölkerung an psychischen Erkrankungen. Einige Quellen sprechen von noch mehr Betroffenen, Quellen: Reha-Infoärzteblatt.de oder DGPPN Dossier 2018.

Es gibt bereits sehr gute Anti-Stigma-Projekte, durch die immer mehr Menschen besser aufgeklärt werden, z. B. „Verrückt? Na und!“ von IRRSINNIG MENSCHLICH.

Viele Menschen arbeiten heute in den unterschiedlichsten Kontexten für eine vielfältigere Gesellschaft, bessere Lebensbedingungen und die Abnahme von Stigmata, Behindertenfeindlichkeit sowie Zwang und Gewalt ggü. Menschen mit Behinderungen.

Wir wollen uns dafür einsetzen, dass sich die Verbrechen der damaligen Zeit nicht wiederholen und den Opfern gedenken. Lasst uns die Augen nicht vor Ungerechtigkeiten verschließen.

Zum Gedenken finden an verschiedenen Orten in ganz Deutschland Gedenkveranstaltungen statt. Der Landesverband Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e. V. (LSP M-V e. V.) ruft dazu auf, durch regionale Aktionen am 27. Januar 2024 ein gemeinsames Zeichen des Erinnerns an die Opfer des Nationalsozialismus und gegen Faschismus und Menschenfeindlichkeit zu setzen.

Wir wollen dies durch eine landesweite Schweigeminute am 27. Januar 2024 um 10:00 Uhr ausdrücken.

Der LSP M-V e. V. möchten Eure bzw. Ihre regionalen Besuche bzw. Aktionen an Orten des Gedenkens, z. B. an Stolpersteinen, an den einzelnen Mahnmalen, in Gedenkstunden in psychosozialen Einrichtungen oder im Gemeinwesen – online zusammenführen und am 27.01.2024 ab 19:00 Uhr dokumentieren.

Die Momente des Gedenkens bitten wir, per Foto festzuhalten und dieses bitte an LV@sozialpsychiatrie-mv.de zu übersenden (Fotos als JGP- oder PNG-Bild-Datei als Anhang der E-Mail einfügen).

Am 27.01.2024 Mal treffen wir uns in Alt Rehse, dem Ort mit einer besonders prägenden Geschichte für die Durchführung der menschenverachtenden NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisierungen.

Wir erinnern dabei an WegbegleiterInnen, die unsere Gedenkveranstaltungen seit 2008 aktiv mit prägten und begleiteten: Käthe Schüler, Prof. Dr. Harald Freyberger und Prof. Dr. Klaus Dörner. Wir möchten Sie auch in deren Namen und Andenken dazu aufrufen, nicht darin nachzulassen, den Blick auf die Opfer der NS-„Euthanasie“ und die Geschichte der Profession der Helfenden zu richten. Heute ist es an uns, die Rahmenbedingungen mit ein einer stabilen Haltung von Respekt und Toleranz im Sinne der Menschenrechte und der UN-Behindertenkonvention zu gestalten und gegen alle Anfeindungen und Ausgrenzungen zu verteidigen.

„Nur wenn die „Euthanasie“-Toten uns ohne Unterlass an die stets offenen Wunden der Psychiatrie erinnern, sind sie vielleicht nicht umsonst gestorben.“ Prof. Dr. Klaus Dörner (1933 – 2022)

Wir danken allen für das Engagement und wollen damit gemeinsam unsere Haltung für ein vielfältiges und solidarisches Zusammenleben zum Ausdruck bringen.

Website LSP M-V e. V. sowie Christian Kaiser und Nicole Heyden von EX-IN Mecklenburg-Vorpommern e. V.

Flyer LSP Gedenkveranstaltung 2024